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  • Lynn Blattmann

Von der Völlerei zum Verzicht

Unser Essverhalten hat viel mehr mit den Umständen und Normen unserer Gesellschaft zu tun als mit einem "natürlichen" Geschmack. Ein Blick in die Geschichte wirft ein anderes Licht auf die Hintergründe unserer Esskultur.

Die Völlerei war seit dem 13. Jahrhundert neben Hochmut, Neid, Geiz, Wollust, Zorn und Faulheit eine der sieben Todsünden. Die Kirche versuchte damals mit rigorosen Mitteln den Menschen die Freude daran zu nehmen, sich masslos mit Essen vollzustopfen. Wie immer, wenn etwas zur Sünde erklärt wurde, steigerte dies für einige sogar die Attraktivität an diesem Tun. Und wie ein Blick in die Bauchhöhle zeigt, muss die Gefrässigkeit schon weit vor dem Mittelalter eine verbreitete Freude des Menschen gewesen sein, denn die Evolution hat extra ein Organ dafür entwickelt: Die Gallenblase. Dabei handelt es sich quasi um einen Extrabehälter mit Fettverdauungssaft, der solche Fressorgien für den Körper überlebbar und verdaubar macht. Heute ist in medizinischen Journalen zu lesen, dass die Gallenblase für ein normales Ernährungsverhalten unnötig ist. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass dies tatsächlich stimmt, denn ich habe keine mehr und esse bestens ohne. Früher hätte ich das Fehlen meiner Gallenblase wohl häufiger bemerkt.


Unsichere Lebensmittelversorgung dauerte mehrere tausend Jahre lang

Bis ins 19. Jahrhundert hinein gab es immer wieder Probleme mit der Nahrungsmittelversorgung. Noch in den den Jahren 1816-1818 wurde die Schweiz von der letzen grossen Hungerkrise getroffen. Schuld daran war ein aussergewöhnlich kalter und feuchter Sommer in Europa, der die Getreideernte weitgehend vernichtet hatte. Auch die Heuernte war so schlecht ausgefallen, dass das Vieh damit kaum ernährt werden konnte. Die Menschen assen in der Verzweiflung Gras, Rinde oder Blätter und viele starben an Mangelernährung und an Infektionskrankheiten. Früher waren es jedoch nicht nur die Missernten, die den Menschen Probleme machten, sondern auch die schlechten Aufbewahrungsmöglichkeiten der Nahrungsmittel. Gutes Getreide wurde oft über den Winter von Schädlingen gefressen, oder es setzte Schimmel an. Bis vor hundertfünfzig Jahren waren beispielsweise die Möglichkeiten der Haltbarmachung von Fleisch begrenzt. Darum gelang es oft nicht einmal, gute Ernten in genügend Essen für die Menschen zu verwandeln.

Es gehörte zum Alltag der meisten Menschen bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein, dass ihr Essensangebot schwankend und die Qualität oft schlecht war. Verdorbenes Essen war so alltäglich wie unzureichende oder einseitige Ernährung.

Eine Ausnahme bildeten die Feste, da gab es ein Festessen, also die Möglichkeit, den Magen so richtig voll zu schlagen.

Festschmäuse hatten jedoch früher nicht nur kirchliche Hintergründe, in Zeiten der schlechten Möglichkeiten der Haltbarmachung dienten sie auch der Lebensmittelverwertung. Wenn es schon nicht möglich war, ein fettes Schwein so aufzubewahren, dass es den ganzen Winter über reichte, dann wollte man wenigstens so viel wie möglich davon selbst verschlingen, statt es der Fäulnis oder den Hunden zu überlassen. Ein Überbleibsel dieser Esstradition ist in der Schweiz noch die Metzgete.


Heute: Der Lebensmittelüberfluss seine Folgen

Heute leben wir in einer völlig anderen Welt. Die Lebensmittelversorgung ist so gut, dass selbst während des Lockdowns in Coronazeiten alles erhältlich war. Die Menge der Lebensmittel, die nach der Ernte verderben oder von Mäusen gefressen wird, ist gering geworden, die Produktivität der Landwirtschaft hat sich vervielfältigt und die Methoden der Haltbarmachung sind so ausgeklügelt geworden, dass wir das ganze Jahr knackige Äpfel kaufen können.

Wir leben heute in einem derartigen Lebensmittelüberfluss, dass die Völlerei eigentlich kein Problem mehr ist. Die Leute stopfen das Essen nicht mehr in rauhen Mengen in sich hinein, weil sie wissen, dass bald wieder eine Hungerzeit kommt, sondern sie werfen es weg, oder sie essen es so gelangweilt oder abgelenkt, dass sie gar nicht merken, wann sie genug haben.


Foodwaste gab es schon früher. Allerdings waren es die Schimmelpilze, Insekten oder die Mäuse, die das Essen statt der Menschen frassen, heute werfen wir Lebensmittel einfach weg, wir karren gutes Essen mit dem Lastwagen in die Kehrichtverbrennung und machen im besten Fall noch etwas Fernwärme oder Strom daraus.

Wir haben noch nicht gelernt, mit diesem Überfluss umzugehen. Darum benehmen wir uns im Moment so unsicher was das Essen angeht.

Die Fülle der Ratschläge zu einem "richtigen" und "gesunden" Essverhalten ist so unüberschaubar und so widersprüchlich geworden als wäre das Essen eine so neue Tätigkeit des Menschen wie das Arbeiten im Home-Office oder das Surfen im Internet.

Die Frage, ob die Zukunft vegan ist, oder ob eher die Paläodiät das Rennen machen wird, ist falsch gestellt.

Unsere Gesellschaft ist vielfältiger geworden, das soll und darf sich auch auf unsere Esstile auswirken. Dennoch wir sind Kinder unserer Herkunft und unseres Milieus. Unser Geschmack wurde und wird gebildet durch Erfahrung. Es ist der Braten unserer Grossmutter, das Pilawreis, das wir in Istanbul mal gegessen haben, der Duft frischer Erdbeerkonfitüre, die uns im Innersten berühren und unsere Sehnsucht nach dem höchsten Essensgenuss nähren. Unser Nahrung ist Identität und unser Essen ist Selbstvergewisserung.

Die Menschen vor der Erfindung der Konservendose waren fokussiert auf die Völlerei, ein Festschmaus, ein Gelage mit Freunden, davon träumten sie damals, heute träumen wir wenn es ums Essen geht vor allem von Verzicht.

Wir stellen uns ein Leben vor ohne rotes Fleisch, mit ganz wenig Kohlehydraten, oder eines, das vollgepackt ist mit Eiweiss, das aus unseren Muskeln Sixpacks macht. Die Realität sieht meist anders aus und sie ist bei Unerreichbarkeit so schuldbeladen wie damals die Völlerei für die Menschen, die unter der Fuchtel der Kirche gelebt haben.

Vielleicht wäre es an der Zeit, das Essen von der Schuld zu entflechten und einen Appetit zu entwickeln auf ein Essen, das uns nicht überfordert und das wirklich zu unserem Leben und unserer Umwelt passt.

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