Hochkultur auf dem Teller
- Lynn Blattmann
- 20. Juni 2020
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 23. Nov. 2020
Warum das Essen von Spitzenköchen zu den ergreifendsten Erlebnissen gehört, die man erleben kann.

An meinem zwanzigsten Geburtstag wurde ich von einer Freundin zum Essen bei einem Spitzenkoch eingeladen. Obwohl ich damals keine Erfahrung hatte mit Spitzengastronomie, war meine erste derartige Esserfahrung derart stupend und ergreifend, dass ich sie nie vergessen habe. Ja, es war teuer. Und zwar so teuer, dass wir nach dem Essen den Kellner um Geld anbetteln mussten, um überhaupt das Auto noch aus der Tiefgarage auslösen zu können. Ja, es war fürchterlich edel. Vor dem Eingang standen zwei livrierte Männer, die aussahen wie der Liftboy bei Felix Krull und das viele Besteck auf dem Tisch war einschüchternd.
Aber da war das Essen. Und es war so, wie ich es noch nie geschmeckt hatte. Es fegte alles, was ich bisher punkto Essen erlebt hatte vom Tisch.
Es war eine Consommé au Sherry, die mich damals derart in Verzückung gebracht hatte und etwas später ein Tomateneis, das in mir vorher nie geschmeckte Freuden ausgelöst hatte.
Unzählige Male habe ich seither Freundinnen und Bekannten von diesem mich tief bewegenden Erlebnis erzählt, aber damit meist nur ein Schulterzucken ausgelöst. Sie verstanden nicht, warum man für Essen so viel Geld ausgeben sollte, günstigeres Essen schmecke doch auch und ein gutes Steak mit Salat sei doch unübertreffbar. Ausserdem fanden sie es pervers, dass man so viel Aufwand für Essen betreibe, einer sagte sogar, mit Essen sollte man nicht spielen, auch nicht in der Küche.
In den vergangenen neununddreissig Jahren habe ich dann noch zwei oder drei ähnlich tief berührende Esserfahrungen machen dürfen, aber da ich für solche Freuden keine ebenso esskulturverrückte Begleitung hatte, waren sie in den vergangenen Jahren unterblieben.
Nicht, dass mich das Thema losgelassen hätte, ich las viel über gute Köche. Pier Marco White aus London faszinierte mich, oder Horst Petermann, der sein Restaurant sinnigerweise Kunstsuben genannte hatte und natürlich Andreas Caminada. Dann kam Netflix mit seiner Dokuserie über die verrücktesten SpitzenköchInnen der Welt. Ich schluckte leer vor dem Bildschirm und tauchte ein in die Leidenschaft für Texturen, Geschmackskombinationen, Techniken und besonderen Zutaten und konsumierte kalorienlos.
Ich mag auch Malerei. Es gibt Begegnungen mit Bildern, die ich nie vergesse. Aber beim Essen wird nicht nur das Auge beglückt, sondern auch die Nase, der Geschmackssinn und sogar das Ohr, wenn eine perfekte Tempura knackt.
Essen kann ich mir einverleiben. Um es zu geniessen, muss ich dies sogar tun. Das erklärt vielleicht auch, warum viele Menschen so zurückhaltend sind beim Spitzenessen. Es ist ein Kulturkonsum, der in Dich hineingeht, das muss man zulassen, sonst hat der Akt etwas Übergriffiges.
Darum ist Essen immer auch etwas sehr Persönliches und Intimes. Ich kann zwar meinen Körper mit Lebensmitteln abfüllen und ihn pragmatisch pflegen wie ein Auto oder eine Ledersitzgruppe. Wenn ich ihm aber mit Essen Lust bereite, dann muss ich willig und offen sein. Das heißt auch, ich muss Vertrauen haben in den Koch.
Viele haben Angst davor, gemästet zu werden. Wenn man die Geschichte der hohen Esskultur anschaut, erstaunt einen diese Angst nicht, denn lange waren Völlerei und die Vorstellung von hochstehendem Essen eng miteinander verzahnt.
Die Küche von Escoffier, die so prägend war für unsere europäische Vorstellung von kultiviertem Essen, basierte auf Saucen. Butter war wichtigster Geschmacksträger.
Wer heute die Kochsendungen von Julia Child aus den 60er Jahren anschaut, staunt über ihren enormen Butterverbrauch.
Erst im Zuge der Nouvelle Cuisine in den neunzehnfünfziger Jahren wurde die Spitzenküche leichter, dieser Trend verstärkte sich noch mit der heute modernen Marktküche, die auf lokale, saisonale Produkte setzt.
Dabei geschah noch eine weitere Verschiebung, die das Potential hat, ganz neue Esserinnen und Esser für die Spitzengastroniomie zu gewinnen: Das Fleisch, beziehungsweise der edle Fisch steht nicht mehr im Zentrum. Bei modernen Spitzenköchen wird in neuen Kreationen plötzlich einem Rettich oder einem Pilz die Hauptrolle in einem Gericht übertragen. Was wenig aufregend klingt, erweitert die Esserfahrung, den Genuss und die Geschmacksvielfalt enorm. Einem Stück Makrele in der Küche die gleiche Sorgfalt angedeihen zu lassen wie früher einem Hummer schont nicht nur die Weltmeere, es eröffnet auch ganz neue Geschmackserlebnisse.
Wer glaubt, dass mit so viel Vernunft und Bescheidenheit gar nicht auf Spitzenniveau gekocht werden kann, der sei an Andreas Caminada verwiesen.
An meinem 59. Geburtstag wurde ich von meiner Partnerin zu Caminada auf das Schloss Schauenstein eingeladen. Es war mein erster Ausflug in die Topklasse der modernen Haubenküche seit Jahren. Meine Vorbehalte waren gross, liebe ich doch Fleisch und Fischgerichte und fühle mich bei vegetarischen Kreationen schnell vertröstet.
Doch es kam alles ganz anders. Was Caminadas Kreationen mit mir machten, erfahren Sie in meinem nächsten Blogbeitrag.
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